Unverdaute Wirtlichkeit
Author: Andreas Strunk, Stuttgart
Erschienen in: Deutsche Bauzeitung 1970-7
Der hier zusammengefasste Essay berichtet von Auseinandersetzungen im Büro des Architekten Auras und beleuchtet entstehende Überlegungen zu »Konkreter Architektur-Kritik«. Die gängige, abgeschlossene, kaum kritische Weise der Architekturdarstellung ist unangemessen angesichts einer nur vorzutäuschenden Endgültigkeit von Problemlösungen.
Wir wollen mit dem vorgestellten Baukomplex, der Wohnanlage Tilsiterstrasse in Fellbach-Schmiden, eine grundsätzliche Problemstellung skizzieren: der fast hoffnungslose Versuch, das Bewußtsein eines Architekten, in der Regel ein intendiertes humanes, mit dem Bewußtsein der Bewohner zur Vermittlung zu bringen. Pointiert ausgedrückt: Grundrißoptimierung kann nicht soziale Kontakte verbessern; die These Le Corbusiers ist nicht verifizierbar, das Glück des Menschen sei vom Baumeister zu machen: »Wer könnnte die notwendigen Maßnahmen treffen, um diese Aufgabe zum Gelingen zu führen, wenn nicht der Architekt, der die vollkommenste Kenntnis vom Menschen besitzt?« [1]
Die Baugruppe in Schmiden, einer Nachbargemeinde von Stuttgart, stellt den Versuch dar, Eigentumswohnungen in verdichteten Wohngebieten zu individualisieren. Auf einem Baugrundstück von 1900 m² Grundfläche sind etwa 1100 m² Wohnfläche geschaffen worden. Alle Wohnungen haben einen eigenen Grundriß-Zuschnitt. Sie sind vorwiegend nach Süden oder Westen orientiert. Um das subjektive Empfinden individueller Unabhängigkeit zu stärken, gibt es keine gemeinsamen Treppenhäuser. Sämtliche Wohnungen sind direkt von außen über eingeschnittene Höfe, Galerien und Stege
erschlossen.
Die Individualisierung wird im Rahmen eines Konzeptes versucht, das baulich einen Gruppenkanon für die Bewohner bereitstellt: Jeder hat die Möglichkeit sich über die ausgeprägte Gestalt des Bauwerkes als Mitglied einer Gemeinschaft zu identifizieren. Soziale Gegensätze werden harmonisiert; der Besitzer einer Einzimmerwohnung ist genauso integratives Bestandteil der Gruppe wie der Eigentümer einer Siebenzimmerwohnung. »Die Gemeinsamkeit, die Kommunikation herstellt, ist im Ort vorstrukturiert.« [2]
Wird die im Ort angebotene Gemeinsamkeit von den Bewohnern praktiziert? Der Architekt hatte in einem Vorgespräch mit Interessenten ein gemeinsam zu unterhaltendes und zu nutzendes Schwimmbad vorgeschlagen. Der Vorschlag stieß auf heftigen Widerstand; zunächst als offensichtlich grundsätzliche Abneigung gegen gemeinschaftliche Unternehmungen, die individuell unterschiedliche Ursache haben mag: »Wenn Sie wieder das Projekt vorstellen, lassen Sie das Wort ›Gemeinschaft‹ weg, das hört man nicht gern.«
Uneinsichtig, als Einzeläußerung vielleicht bezeichnend für die unbewußt fixierte Einstellung der Bewohner untereinander, war die Antwort einer Wohnungsbesitzerin: »Wir würden nicht gern in der Brühe unseres Nachbarn schwimmen«. Man beklagt sich auch über ungerechtes Putzaufkommen durch unterschiedlichen Anteil an der Verschmutzung des während der Kehrwoche zu reinigenden Innenhofes: »Wir haben keine Kinder und sind sauberer«. Selbstgerechtigkeit spiegelt sich im eigenen Dreck. »Bei normaler Schottenbauweise (wie sie im Umkreis der Siedlung die Regel ist), hätten wir unseren eigenen Streifen Straße und unseren eigenen Zugang zur Wohnung.« Kontrollierbarer und individueller Schmutz. Unverdaute Wirtlichkeit?
»Was anderes als der Gruppenkanon könnte uns dazu zwingen, unsere Interessen eine Strecke weit denen der Gemeinde unterzuordnen? Dabei wäre dieses vom Bewußtsein getragene Unterordnen nur Voraussetzung für ein besseres Aufgehobensein, für eine dem technischen Zeitalter adäquatere Form, dem Individuum Spielraum zu geben. Aber dieser Kanon fehlt, und deshalb verprovinzialisieren unsere Städte in Unwirtlichkeit.« [3]
Zweierlei scheint wesentlich die Unfähigkeit zur Bindung an einen Gruppenkanon verursacht zu haben. Und diese fehlende Bindung oder Bereitschaft mit anderen Menschen nicht nur über die eigene Selbstbehauptung zu leben ist der Grund, daß humaner Städtebau unverdaulich bleiben muß für eine Gesellschaft in der es nicht Raum gibt, menschliche Zuneigungen zu kultivieren. Die durchgehende Vermarktung der Persönlichkeit fixiert an Autorität schlechthin. Selbstbewußtsein wird weitgehend als Leistungsfähigkeit erlebt. Die Leistungsnorm bindet aggressiv die Individuen an sich. Diese Aggressivität kann der Norm gegenüber nicht ausgelebt werden; Aggression gegen das, was mich erst auf dem Markt definiert, entzieht mir meine Lebensbasis: sie wird ausgelebt in einem marktfernen Freiraum, in der Familie. Der Marktmechanismus braucht die Institution ›Familie‹ als Raum der Aggressionsneutralisierung.
Dieser Vorgang schafft Abschließung und Verhärtung nach außen. Was in meinen vier Wänden passiert, geht niemanden etwas an. Es ist die Angst vor der Selbsterkenntnis durch den Nachbarn, die Angst vor der Entdeckung, daß ich gefangen bin.
In der Berufswelt bin ich abhängig, der Herr in der Familie bin ich [4]. Städtebau ohne eine Familienpolitik, die nicht in der Lage ist, diese Herrschaftsstrukturen abzubauen, taugt nichts.
Das Ende des 2. Weltkrieges brachte das Ende eines Kollektiv-Wahnes: die allmächtige Vaterfigur des Führers entlarvte sich nicht nur als Popanz, der hysterische Glaube an ihn brachte Elend. Die These von Mitscherlich, dargestellt in "Die Unwirtlichkeit unserer Städte", daß dieses kollektive Versagungserlebnis in sehr hintergründiger Weise die Eigentumspolitik der Nachkriegszeit mit einer triebmäßigen Basis versehen habe, überzeugt: der neue Kollektiv-Wahn ist die Bindung an Grund und Boden. Wenn der Vater uns schon verlassen hat, die mütterliche Erde wird uns halten.
Die Eigenheim-Ideologie hat sich festgefressen im Unbewußten des Bürgers; damit ist ein anderer Grund für die Untauglichkeit zum Gruppenkanon belegt. Städtebau ohne Sozialtherapie, die nicht in der Lage ist, eine neue triebmäßige Basis, d. h. eine gruppendynamische Basis zu schaffen, taugt nichts.
Was ist zu tun? Die Frage muß bleiben, solange die Antwort nicht instrumentiert werden kann. Städtebau kann sich nicht mehr verstehen unabhängig von einer familienpolitischen (d. h. gesellschaftspolitischen) und sozialtherapeutischen Aktivität. Problem lösung beginnt mit Problembewußtsein. Versuche zur Schulung eines ›Städtischen Bewußtseins‹ gibt es kaum. Das Problem ist identisch mit der Frage: »Wie ist Planung der Stadt und Pädagogik städtischen Verhaltens zu synchronisieren?«
Literatur
[1] Le Corbusier, An die Studenten, Die »Charte d'Athenes«,
rowohlts deutsche enzyklopädie, Nr. 141, S. 125
[2] Heide Berndt, Alfred Lorenzer, Klaus Horn, Architektur als Ideologie,
edition suhrkamp, Nr. 243, S. 78
[3] Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte,
edition suhrkamp, Nr. 123, S. 20f.
[4] Dietrich Haensch, Repressive Familienpolitik,
rowohlts sexologie, 1970